Manchmal weiß sie es nicht mehr. Manchmal weiß sie nicht mehr, was sie gelesen, woran sie geglaubt hat. Manchmal kennt sie die Einzelheiten nicht wieder aus denen sie besteht. Sie hat nichts mit sich zu tun. Sie beobachtet sich. Das Unzusammenhängende. Sie wartet. Sie weiß bereits worauf. Sie zögert noch, es auszusprechen. Sie glaubt noch an eine Lösung, glaubt, alles könne sich wieder auflösen, frei schwebende Teilchen, die jedes Recht haben, sich so zusammen zu setzen, wie es ihnen gefällt. Manchmal kann sie noch daran glauben. Es ist nicht viel. Es genügt.
Sie traut sich nichts zu. Ihre Hand zittert. Ihre einstmals schöne Handschrift ist kaum mehr leserlich. Sie schweigt. Aber sie hört nicht zu. Weder den Stimmen in ihrem Inneren, die versuchen sie aufzurichten, noch denen der anderen, die unablässig von einer Zukunft sprechen, die es für sie nicht gibt.
Wenn jemand den richtigen Ton der Vergangenheit treffen würde, könnte sie ihm vertrauen. Vielleicht.
Ihr Geruch hat sich verändert. Sie riecht süßlich. Schon ein bisschen nach Tod.
Sie sieht sich selbst beim Sterben zu.
Dann verläßt sie den Traum mit dem Spiegel, kleidet sich an, geht zum Fenster. Was sie dort sieht, sagt ihr nichts. Eine junge Frau in einem rotgetupften Kleid führt ihren Hund spazieren. Der Briefträger steigt vom Rad, ein paar alte Damen in ihrem Alter finden kein Ende beim Händeschütteln, der Verkehr schwillt an, ebbt ab. Am Himmel ballen sich Wolken zusammen.
Das alles hat nichts mit ihr zu tun. Sie schließt das Fenster, dreht sich um. Dieser Raum ist fast leer. Die Wände kahl und weiß. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Regal. Die Tür hat sie schwarz gestrichen. Der Fußboden ist aus dunklem Holz. Sie hat viel mehr Räume als sie braucht in diesem Haus. Sie kann es sich leisten, jeden Raum so sparsam einzurichten. Fast karg. So wie ihre Jahre jetzt sind. Seit einiger Zeit. Erfüllt von einer Leere. von der Beobachtung ihres sterbenden Körpers.
Sie lächelt. Sie ist den Tränen nah. Sie spürt ihre Blicke. Ihr Schweigen. Die Worte, die nichts bedeuten, die sie in undurchsichtige Gewänder kleiden, die ihre Aussagen verbergen hinter einem zweifelhaften Sinn. Die Leerstellen, Hohlräume zwischen den Buchstaben, den Worten. Der Rhythmus der Sätze, ihre Melodie. Die Schritte ins Leere sind ihr Trost. Sie lächelt. Die Tränen sind nahe.
Später tanzt sie wortlos. Und weint.
Sie ist gelassen. Sie lässt sich gehen. Sie vertraut sich den sanften und schamvollen Menschen an, weil sie zu sanft sind, um die Erinnerun an sie festzuhalten. Sie denken sichnichts dabei, alles zu verstehen und nichts davon zu verraten.
Die anderen hüllen sichin Schweigen. Auch das ist ihr recht. Die Lautlosigkeit hält sie warm. Ihre Hände zittern. Sie ist nicht mehr jung. Sie ist nicht verbittert. Sie erwartet nichts mehr. Sie ist gelassen. Ihr Leben geht.
Wir bleiben zutiefst harmlos und das ist vielleicht das Gefährlichste, was passieren kann.
Was uns bewegte, hatte nur sehr begrenzt mit uns zu tun. Ich schrieb. Aber ich schrieb es nicht auf. Etwas, woran man sich ursprünglich festhalten wollte, das einen jedoch unversehens niederringt. Ich stan am Ufer. Ich sah wie dieser Mann sich einer Welle gleich durch das Wasser bewegte.
Wie man sich in sich selbst verläuft (und dann nicht wieder hinausfindet). Die einen schweigen, weil niemand sie versteht und die anderen kämpfen und wüten und stehen in ihrem eigenen Unverständnis zu sich selbst.
Hinter ihrem Rücken waren Risse zu hören. Jemand zerriß die Stille. Jemand sagte, einmal saß eine Frau im Winter am offenen Fenster und stickte. Als ihre Finger ihr, halb erfroren, nicht mehr gehorchten, stach sie mit der Nadel ins Fleisch des Zeigefingers, dass es blutete. Doch Schnee fiel auf das Blut und löschte das Märchen aus.
Ich verstand nicht, was es mir zu sagen hatte. Hier waren die Worte, dort war ich, irgendwo dazischen (unerreichbar) der Sinn. Ein Weg aus Wasser, ein Weg aus unkündbaren Gesteinsbrocken. Ich ging dahin, ließ mich zurück, bewegte mich zu auf das Ende. Hier war die Trauer, dort war das Haus. Irgendwo dazwischen ich. Unterwegs.
Gott sitzt allein auf einem Küchenhocker und reißt vor lauter Langeweile Fetzen aus den Wolken, die er in unregelmäßigen Abständen auf den Himmel wirft.
Irgendein Idiot hat gesagt, dass isch das ja nicht widersprechen muss: eigenbrötlerisch, abweisend im Umgang mit anderen zu sein und sich auf die Seite der Menschen zu stellen, sich egoistisch zu gebärden und zugleich zutiefst humanistisch zu schreiben.
Vielleicht hatte er Recht. Am Ende sind es doch immer die Idioten, die Recht haben.
Sie weiß, dass man über sie spricht. Was man über sie sagt, bleibt ihrer Vorstellung überlassen.
Sie betritt das Haus ihrer Kindheit. Nur sie allein hat Zutritt zu diesem Ort. In ihren Händen liegt die Zeit, die Vergänglichkeit, die Entbehrungen der Zukunft. Sie weiß. Sie fürchtet ihr Wissen. Sie glaubt an eine Möglichkeit, zu entkommen. Sie weiß nicht, wovon sie spricht. So wenig, wie sie das kennt, worüber sie schweigt.
Sie denkt an Wasser. Sie denkt an Tagebücher und plötzlich ausbrechenden Hass. Bald würde es morgens nicht mehr so dunkel sein, bald würden sich einige Versprechen, die sie sich niemals gegeben hatte, ganz von selbst einlösen.
Das musst du dir mal vorstellen!, sagten die Leute auf der Straße zueinander und antworteten: Das kann ich mir nicht vorstellen. Dann vergaßen sie das Gespräch. Die Zeit verging. Ihre Haltung war nachlässig. Manchmal erlebt sie kleine Momente des Gelingens, viel häufiger gab sie nach, aber nie vollständig, nie so, dass sie es hinnahm, dass sie die tänzelnden Schritte zur Vermeidung des Schlags vergaß.
Irgendetwas saß ihr im Nacken. Sie nannte es Zeit, oder Disziplin.
Das Wasser in der Plastikflasche auf dem Tisch, bewegt sich, wenn sie schreibt.
Sie beendet alles, bevor es vollendet ist, vor der Zeit. Sie hat keine Geduld. Sie hat ein bestimmtes und nie von ihr selbst in Zweifel gezogenes Urteilsvermögen. Wer so bestimmt urteilt, irrt sich nicht, behauptet sie. Sie hat kein Interesse an der Liebe, oder an der Vergangenheit. Was sie interessiert ist ihr Körper. Die Art, wie er sich verändert. Wie er immer noch zögert, ganz zu zerfallen. Sie betrachtet sich ohne Wehmut, ohne Trauer, mit einer wachsamen Neugier. Ihr entgeht nichts. Sie bewertet nichts. Sie glaubt nicht, dass es dem Kind, das jetzt im Treppenhaus die Stufen hinunterspringt besser geht, dass es beneidenswert ist, dass sie selbst bedauernswert sei, weil ihre Kindheit so weit schon hinter ihr liegt. Sie betrachtet ihr weißes, welkes Fleisch, hebt die Brüste an und lässt sie zurücksinken.
Die Gutherzigkeit der vertanen Zeit, zeichnet sie aus. Sie erinnert sich an das Haus in dessen Garten sie Holz gehackt hat für den Ofen. Für den Winter. Das Haus, in dem sie glücklich gewesen ist.
Oder ist es nur ihre Erinnerung, die glücklich ist, wenn sie sich mit diesem Haus beschäftigen darf? Ein Gefühl, das diese Erinnerung auszeichnet vor den anderen Erinnerungen.
Sie ist noch schön. sie hofft, dass es sich bei diesen manchmal aufblitzenden Resten von Schönheit um jene altersunabhängige Schönheit handelt, die jene alten Gesichter auszeichnet, an denen sie sich nie sattsehen kann.