Wir
Wir sind aus Verlusten gemacht. Wir trennen uns, um einander wiederzufinden, als Falte in einem fremden Gesicht, als ein Blick, der sich senkt.
Von draußen wehen merkwürdige Geräusche herein, unterbrechen die Gedankengänge, schicken sie auf Abwege. Etwas stürzt ein, etwas ist versperrt und mit einem Lächeln setzt du dich darüber hinweg und lässt der Vorstellung den Vortritt.
Wir liegen quer zur Erkenntnis. Wir winden uns in Einsprüche. Unsere Einsprüche sprechen uns an. Aber wir lassen niemanden ausreden. Argwöhnisch bewachen wir unsere Lippen. Mit den roten Wangen der Vergangenheit wandern wir zum Fluss. Wir hören ihn rauschen. Das Rauschen beruhigt uns. Aber die Ruhe besänftigt uns nicht. Unter der Oberfläche sehen wir Fische. Die Fische sind stumm, sagt man. Wir glauben nicht daran. Die Fische schwimmen den Einsichten davon. Das ist was wir glauben. Was wir fühlen ist Neid. Aber wir sprechen es nicht aus. Wären wir Fische, wäre alles in Bewegung. So aber stehen wir an einem Ufer das quer zur Erkenntnis liegt.
Wir vertauschen die Farben mit den Anforderungen, das Verstehen mit dem Gelesen werden. Wir schreiben wir, weil uns vor uns selbst graut.
Indem wir die Buchstaben vertauschen, glauben wir dem Sinn zu entkommen.
Wir lasen die Briefe, ohne etwas zu verstehen, etwas, das darüber hinausging, dass dafür sorgen könnte, dass sich die Wolken verziehen und ein Stück Himmel preisgeben.
Er war noch jung, aber ich war es gewohnt zu warten. Die Fragen zu schlucken, nachdem ich lange auf ihnen herumgekaut hatte.
Was ist morgen von gestern übrig?
Mein lieber Mann, schreibt sie, draußen fällt der Regen. So wie ich damals auf dich hereingefallen bin.
Es gibt nichts, was wir einander sagen könnten. Wir verbergen uns nicht. Aber nichts deckt uns auf.
Wie wenig wir doch verstehen. Und dennoch wird Frühling, die Nägel wachsen, die Haare werden länger, die Züge tiefer, die Spiegel spiegeln weiter Oberflächen und wenn plötzlich (unerwartet) für den Bruchteil einer Sekunde etwas hintergründiges, etwas tiefer liegendes aufblitz, schließen wir die Augen und öffnen das Fenster, als wenn unsere Seele jetzt schon das Weite suchen dürfte und wir blieben tapfer mit dem Körper zurück.
[Auf die Müdigkeit hoffend und auf einen traumlosen Schlaf. An die Rückkehr der Hoffnung wagen wir nicht zu denken, unsere Tapferkeit ist verletzlich und klein, nicht für Enttäuschungen gerüstet.]
Wir schreiben Briefe und gehen durch die Tage. Jeder Tag ein Widerspruch an die Nacht. Wir öffnen die Fenster nur noch selten. Vielleicht weil wir etwas mehr verstehen.
Wie der Morgen uns umkreiste. Die Nacht hatte Bilder in uns gezeichnet, die es zu vergessen galt. Überall die großen und kleinen Schritte der Verwegenheit. Wiederholungen, Einsichten, Aussichten. Das woraus wir gemacht sind, ist ein fließendes Material.
Es sind die Tage, die wir verschwiegen haben, die uns nur scheinbar unberührt hinterließen.
Wir verwickelten uns in Gespräche, in denen die Worte dem Sinn entkamen. Statt standzuhalten, gaben wir nach.
Was nun von uns übrig ist, sind Reste, die niemand zusammenfügt.
Dann sind wir allein. Mit dem Morgen. Nichts geht weiter.
Die Zeit steht still.
Bewegt die Lippen, aber spricht nichts aus.
Als würden wir versuchen unter Wasser zu atmen.
Und es gelingt.
Wir vertrösten uns, legen eine fanatische Blässe auf unsere Gesichter. Schreiten voran und lassen zurück. Wir haben gelernt, nicht zurückzublicken. Tun wir es doch, erstarrt etwas in uns zur Salzsäule. Wie Tiere flüchten wir vor fremden Farben, stillen das Vergessen mit den Begriffen der Zeit.
Niemand lauschte uns die Träume ab, resignierte vor den Salzspuren, die sich im Nirgendwo verloren. Alle waren tapfer, um Aufrichtigkeit bemüht. Ich vertauschte meine Sandalen mit den Gummistiefeln meines Bruders und wartete auf die nächste Mahlzeit.
Manchmal verirrte ich mich zwischen den Zeiträumen. Fand mich nicht mehr zurecht. Dann lag über allem ein Schleier. Eine Art Vergeßlichkeit, die die Tage versiegelte. Vergeblich legten wir den Gedanken Gewicht an, damit sie nicht unbemerkt verfliegen.